Persönlichkeitsstörungen als Werkzeug für Romanfiguren – sinnvoll oder klischeebehaftet?
- Rena

- 16. Dez. 2021
- 3 Min. Lesezeit
Was in der Realität eine Bürde sein kann, kann für unsere Romanfiguren genau das Richtige sein – wenn man es richtig macht.
Gerade in Thrillern wimmelt es nur so vor psychisch auffälligen Figuren. Und inzwischen scheint es fast so, als könne man keine*n Schurkin mehr schreiben, ohne ihr mindestens narzisstische Züge zu verpassen.
Aber ist das wirklich eine gute Idee?
Extremer als das echte Leben
Auch wenn wir uns um Authentizität bemühen – Romanfiguren sind selten wie reale Menschen. Sie sind konzentrierter, fokussierter, klarer gezeichnet. Wenn sie schüchtern sind, dann so sehr, dass wir als Lesende sofort merken: Hier stimmt etwas nicht. Wenn sie stark sind, dann mit durchtrainierter Willenskraft. Sie sind die Menschen, nach denen wir uns auf der Straße umdrehen würden – oder vor denen wir lieber die Straßenseite wechseln.
Und genau deshalb kann eine Persönlichkeitsstörung in der Fiktion ein legitimes Mittel sein, um Komplexität, Reibung und Spannung zu erzeugen.
Warum so viele Schurken Narzissten sind – und warum das ein Problem ist
Narzissten als Antagonist:innen?
Funktioniert, klar.
Sie manipulieren, verlangen Bewunderung, entwerten andere – das ist erzählerisch reizvoll. Aber wenn jeder Schurke narzisstisch ist, wird es schnell einfallslos. Und schlimmer noch: Es trägt zur Stigmatisierung bei.
Denn: Nicht jeder Mensch mit narzisstischen Zügen ist automatisch bösartig. Und nicht jeder Bösewicht braucht eine klinische Diagnose, um überzeugend zu wirken.
Worauf du beim Schreiben achten solltest
Was du vermeiden solltest:
Klischees: „Er ist böse, weil er Narzisst ist“ ist keine Erklärung, sondern ein Stereotyp.
Diagnosen als Plot-Twist: Persönlichkeitsstörungen sind keine dramaturgischen Jokerkarten, mit denen man „Bösartigkeit“ psychologisch begründen kann.
Halbwissen: Eine schlechte oder verkürzte Darstellung fällt auf – und ist unfair gegenüber realen Betroffenen.
Störung = Charakter: Die psychische Störung darf eine Facette sein, nicht der einzige Charakterzug.
Was du stattdessen tun solltest:
Innenleben zeigen: Was will die Figur? Was fürchtet sie? Was erlebt sie innerlich – und wie passt das zu ihrem Verhalten?
Vermeide Labeling: Du musst nicht explizit schreiben, „sie hat Borderline“. Du kannst das Erleben schildern, ohne eine Diagnose zu vergeben.
Recherche ist Pflicht: Lies nicht nur Wikipedia, sondern Biografien, Erfahrungsberichte, Fachtexte. Schau dir Interviews mit Betroffenen an.
Ambivalenz zulassen: Eine Figur darf gleichzeitig manipulativ und verletzlich sein. Dominant und unsicher. Grandios und innerlich leer.
Kontext einbauen: Zeige, wie das Umfeld auf die Figur reagiert – und lass gegebenenfalls auch andere Perspektiven zu Wort kommen.
Kurze Einordnung häufiger Persönlichkeitsstörungen
Hier eine Übersicht, nur als Impuls für deine Figurenentwicklung (keine Diagnose):
Narzisstische Persönlichkeitsstörung
Der Klassiker – zu oft als Schablone verwendet. Wichtig: Zwischen grandios-offensivem und verdeckt-vulnerablem Narzissmus unterscheiden. Nicht jeder Narzisst ist ein Egomane mit Yacht.
Histrionische Persönlichkeitsstörung
Braucht ständig Aufmerksamkeit, dramatische Gesten, große Gefühle. Ideal für Figuren, die durch ihre Inszenierung auffallen – nicht unbedingt „böse“, aber oft anstrengend im Miteinander.
Dissoziative Identitätsstörung
Sehr selten, aber in Romanen beliebt. Wenn du sie nutzen willst, lies Erfahrungsberichte! Die Teilidentitäten haben oft klare Rollen (Schützerin, Kind, Aggressor…) und wissen meist nichts voneinander.
Schizoide Persönlichkeitsstörung
Wirkt emotionslos, distanziert, fast schon „roboterhaft“. Dahinter können tiefe Verletzungen oder ein komplett anderes Beziehungserleben stehen. Interessant für zurückgezogene, undurchschaubare Figuren.
Selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung
Eher passiv, meidet Risiken, braucht ständige Rückversicherung. Könnte gut als Nebenfigur funktionieren – oder als Protagonist:in in einer psychologisch dichten Geschichte über Überwindung und Entwicklung.
Noch ein paar Denkanstöße
Muss die Störung im Mittelpunkt stehen? Oder ergibt sich das Verhalten deiner Figur einfach „aus ihr heraus“ – ohne dass du es groß benennst?
Was passiert, wenn du die typische Rollenverteilung aufbrichst? Eine ängstlich-vermeidende Antagonistin? Ein histrionischer Ermittler?
Wie sieht die Welt aus der Sicht dieser Figur aus? Nicht: „Wie wirkt sie auf andere?“ – sondern: „Wie fühlt es sich für sie selbst an?“
Du darfst Persönlichkeitsstörungen für deine Figuren verwenden – aber übernimm Verantwortung für dein Schreiben. :-)







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